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| roman | „treibsand“
– der nordsee-krimi von christian uecker
Folge 17: Die Erklärung
Die gemeinsame Zeit auf der Insel geht zuende. Auf der Fähre
zum Festland trifft Pastor Falke noch einmal die Schriftsteller.
„Vielleicht war es ihm nicht egal.
Ein junges Mädchen. Und Jessica war beeindruckt von ihm. Nein, mehr als das, ein erwachsener Mann, der sie mochte, begehrte, ernst nahm als Frau ... Sie haben sich jedenfalls für den Nachmittag verabredet. Ab da begann alles schiefzugehen. Denn am Nachmittag geschah der Mord. Sie hatten übrigens Recht, Frau Marxen.Knapproth hatte etwas angefangen. Aber nicht mit ...“
„Mit wem?“
„Ist doch egal, Kattrin.“
„Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich mit ...“
Am Sonntag Nachmittag ... Frauke Boysen schluckte, da hatte sie Wäsche gewa- schen ... und sich geärgert über die Sachen, die Jessica trug, und dass Jessica wieder verschwunden war und dass sie wieder nicht Bescheid gesagt hatte. Sie hatte mit Jessica reden wollen, über Anstand und über das, was sich gehörte ... Stattdessen ... Warum habe ich nicht besser aufgepasst, dachte sie.
„Am Nachmittag geschah der Mord. Da war er mit Jessica irgendwo in Richtung Nebel in den Dünen. Zum Glück für Jessica begann es zu regnen. Sonst ... Sie haben sich dann getrennt, denn an ihr selbst hatte er ja kaum Interesse. Er ist wohl tatsächlich noch durch die Kneipen gezogen, bevor er hier ankam. Hier hat er dann von dem Mord erfahren und sofort reagiert. Als Lehrer wusste er, was auf Unzucht mit Minderjährigen steht. Und durch den Mord war er gezwungen anzugeben, wo er gewesen war. Das konnte er nicht. Wobei“, Frank Falke lächelte, „er sicher überreagiert hat. Er hätte sich irgendetwas ausdenken können, aber er wollte auf Nummer sicher gehen. Er hat Herrn Hagedorn ...“
„Er hat mir ein Alibi abgezwungen. Ich musste sagen, dass ich ihn gesehen habe. Um Viertel nach drei in der Fußgängerzone. Er wollte mich sonst anzeigen wegen ...“
„Sie sind ein Feigling.“
„Ich ...“
„Jedenfalls hat Herr Hagedorn ihm das Alibi geliefert. Das Alibi, das Ihnen allen gleich so verdächtig vorkam. Danach ...“
„Und Dr. Schneiber?“
„Ach ja.“
„Na, der wird jetzt zufrieden sein.“
„Ich verstehe nicht, Frau Marxen.“
„Das ist etwas anderes.“ Kattrin Engels schüttelte den Kopf. „Das gehört nicht hierher.“
„Jessica und Detlef Knapproth haben sich dann wieder getroffen. Ich vermute, er fühlte sich mit dem falschen Alibi einigermaßen sicher. Vielleicht hat Jessica ihn auch gedrängt. Aber ich glaube nicht, dass man ihn drängen musste. Er hat ihr dann einen Ring geschenkt. Den hat sie mir vor ein paar Tagen gezeigt.“
„Das haben Sie mir nicht gesagt.“
„Sie hatte mich darum gebeten, Frau Boysen. Und ich bin Pastor. Verschwiegenheit ...“ Er nickte ernst. „Wenn ich allerdings geahnt hätte, was das bedeutete. Nun ja, nach dem Ring“, Frank Falke nahm den Gesprächsfaden wieder auf, „hat sie sich eine Karte für ihr Handy gewünscht. Ihre war nämlich abgelaufen. Da hat er plötzlich Gefahr gewittert. Ich denke, er hatte Angst und wohl zu Recht, dass Jessica all ihren Freundinnen von ihm erzählen würde. Jedenfalls hat er ihr die Karte nicht gekauft. Vorhin, als er verhaftet wurde, hatte er übrigens eine dabei. Der Kommissar hat es mir erzählt. Ich nehme an, dass er Jessicas Freundinnen eine SMS schicken wollte. So in der Art: Bin von Oma abgehauen. Sucht mich nicht. Die Telefonnummern waren ja gespeichert.“
Ein Teufel, dachte Frauke Boysen. Das mit dieser modernen Telefoniererei verstand sie zwar nicht, das war alles modernes Chinesisch. Aber soviel war ihr klar: Alle sollten denken, dass Jessica von ihr weggelaufen war. In Wirklichkeit dagegen ...
„Vielleicht hat sie da schon begriffen, als sie die Karte nicht bekam, dass etwas nicht stimmt. Obwohl, ich glaube nicht. Ich glaube, sie war richtig verliebt, auch dann noch. Sie haben sich wieder verabredet. Am Quermarkenfeuer. Dass er sich die Verabredung aufgeschrieben hat, es muss nämlich seine eigene Notiz gewesen sein, war sein großer Fehler und“, Frank Falke lachte kurz, „hat mir ziemliche Kopfschmerzen eingebracht. Die beiden waren in einem der Dünentäler und er wollte mit ihr ...“ Frauke Boysen nahm wahr, wie der Pastor sie anschaute, zögerte. Für wen hält er mich, dachte sie plötzlich empört. Sie war weder zu altmodisch noch zu alt, um zu verstehen, worum es ging. „... Auf jeden Fall ist es wieder nicht dazu gekommen, weil ich auftauchte. Danach war Jessica klar, dass sie Macht über ihn hatte. Und Detlef Knapproth wurde klar, dass er Jessica los werden musste. Den Rest kennen Sie. Er wollte sie vergewaltigen, dann ermorden.“
„Wenn Sie nicht gewesen wären!
„Nicht ich – Herr Hagedorn.“
„Aber nein.“ Ingmar Hagedorn schaute zu Boden. „Nein.“
„Eins verstehe ich nicht. Der Mord an Lorenz Schmidt ...“
Falke schüttelte den Kopf. „Ja. Ich habe es auch zuerst gedacht. Aber es ist nicht so. Detlef Knapproth hat Lorenz Schmidt nicht umgebracht. Er hat tatsächlich ein Alibi. Ein bombensicheres: Jessica.“
„Aber dann ...“ Betroffenheit machte sich in der Runde breit.
„Ja genau.“ Frank Falke sah alle der Reihe nach an. „Der Mörder von Lorenz Schmidt muss ...“
„Nun reicht es aber für heute Abend.“
Frauke Boysen erhob sich. Sie hatte genug von Mord und Totschlag, von all diesen schrecklichen Dingen, die auf einmal in ihr Haus geflutet waren. Sie spürte, wie müde sie war. Jessica lebte, das war das Wichtigste. Der Mord an dem Herrn Schmidt ging sie nichts an. Jedenfalls ... nicht heute ... nicht heute Abend. „Der Pastor braucht Ruhe. Gehen wir!“
Die Runde erhob sich gehorsam. Nacheinander verließen die Gäste das Zimmer. Schließlich war sie mit dem Pastor allein.
„Vielen Dank, Pastor Falke! Das werde ich Ihnen nie vergessen.“ Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. Sie drehte sich abrupt um, knallte die Tür hinter sich zu, sah noch sein verblüfftes Gesicht.
Auf der Treppe blieb sie stehen, hielt sich mit schweren Händen am Geländer fest. Langsam versiegten die Tränen, sie atmete tief durch. Morgen würden alle Gäste das Haus verlassen. Der Spuk würde zu Ende sein. Und mit Jessica ... Liebe, das war es, was das Mädchen brauchte. Sie hatte da eine Idee. Sie würde mit Maike und Uwe reden. Die beiden mussten ihr einfach zuhören.
Sie ging die Treppe hinunter. Morgen gingen die Gäste ... und übermorgen würden die nächsten Gäste kommen. So war es immer gewesen. Den ganzen Sommer durch, den Herbst ... Die Nächsten würden kommen, dann wieder die Nächsten, dann ... Aber diesmal war ein Mörder im Haus!
Sie öffnete die Küchentür, sah Okke auf der Bank am Küchentisch hocken.
„Wo bist du schon wieder gewesen, Okke? Hast du wieder geraucht? Wie oft habe ich dir schon gesagt, mein Okke, wenn du so weiter machst ... Na ja, an einem Tag wie heute, aber das mit dem Rauchen, Okke, das ...“
*
„Das dürfen Sie nicht.“ Frank Falke deutete auf die kleine Tafel an der Metallwand des Schiffes. „Das hat er zu mir gesagt. So habe ich Lorenz Schmidt kennengelernt.“
„Ich auch.“ Ingmar Hagedorn nickte, blickte zur Tafel. Möwen füttern verboten, stand dort zu lesen.
Sie befanden sich auf der Fähre. Frank Falke hatte sich auf den Rückweg begeben, gegen den ärztlichen Rat, der ihm noch ein, zwei Tage Bettruhe empfahl, gegen das Angebot von Frau Boysen, ihm noch für weitere Tage das Zimmer zu reservieren. Er war unzufrieden, glücklich, stolz, verärgert, irgendetwas davon und alles zugleich.
Es war Nachmittag. Am Vormittag waren noch alle bei der Polizei gewesen, Sybille Marxen, weil sie noch einmal zu ihrem Spaziergang an der Odde befragt wurde, er selbst und Ingmar Hagedorn, um Auskunft über die Geschehnisse des gestrigen Nachmittags zu geben. Detlef Knapproth, so hatte er allerdings erfahren, war schon am Abend zuvor aufs Festland gebracht worden.
Frank Falke war froh, die Insel zu verlassen, und zugleich unglücklich darüber. Er sehnte sich nach Hause, nach seiner kleinen Welt in Klein Hasenberg, nach seiner Gemeinde, die er kannte und überschaute. Übermorgen würde er wieder Gottesdienst halten. Vermutlich würden nur wenige in der Kirche sein, anders als auf der Insel. Aber es war sein zu Hause.
„Ich gehe ein bisschen umher.“
Frank Falke ging die Treppe hinunter, durchquerte das Restaurant, sah Sybille Marxen und Kattrin Engels an einem der Tische sitzen, begab sich zur nächsten Treppe, ging hinunter, schlängelte sich an parkenden Autos vorbei. Schließlich stand er an der Heckklappe der Fähre, sah in das von den Schrauben aufgewühlte Wasser. In einiger Entfernung segelten Möwen elegant über das Wasser.
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