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| roman | „treibsand“
– der nordsee-krimi von christian uecker
Folge 18: Die Auflösung
Im Gespräch an der Reling erfährt Pastor Falke schließlich vom Täter
selbst, was das eigentliche Motiv für den Mord an Lorenz Schmidt war
Zurück nach Hause ...
Vor knapp einer Woche war er auf die Insel gefahren, um Urlaub zu machen, außer Dienst zu sein, kein Pastor, kein Amt, das er mit sich trug. Einen Tag später hatte er den toten Lorenz Schmidt gefunden. Und er hatte sich, wenige Meter vom Leichnam entfernt sitzend, vorgenommen, sich diesmal der Herausforderung zu stellen. Er hatte sich bemüht, erst zaghaft, dann intensiver. Er war niedergeschlagen worden und er hatte etwas herausgefunden. Aber den Mörder hatte er nicht ausfindig machen können. Das war die eine Seite der Medaille.
Er hatte nicht mit dem Täter gesprochen, ihn nicht benennen können, das war die andere Seite. Die Polizei würde den Täter finden, nicht er, Frank Falke, Pastor von Beruf, der sich niemals nach der Begegnung mit all diesen Schrecken gesehnt hatte. Er würde nach Hause fahren und Pastor sein. Ein für alle Mal vermutlich.
Er begann auf und ab zu laufen, immer an der Reling entlang, vorbei an Trossen und Pollern. War es nicht das, wonach er sich gesehnt hatte? Frieden zu finden. Er blieb stehen, zuckte unbewusst mit der Schulter. Natürlich, aber ... In wenigen Stunden würde er wieder zu Hause sein.
Er sah auf die Uhr, Viertel nach drei. Genauso gut konnte er auch ins Restaurant gehen und den beiden Frauen Gesellschaft leisten oder Ingmar Hagedorn.
Langsam entfernte er sich vom brodelnden Wasser, das er so liebte, passierte eine mannshohe Schiffsluke, aus der penetranter Dieselgeruch entströmte, begab sich wieder auf den Weg nach oben. Viertel nach drei, bis zur Ankunft in Dagebüll würde noch einige Zeit vergehen.
Viertel nach drei, der Zeitpunkt des Mordes. Da war doch etwas gewesen? Ach ja, das Alibi des Detlef Knapproth. Es war ihm gleich aufgefallen, als er die Uhrzeit gehört hatte. Vermutlich neigte man beim Lügen zu allzu großer Genauigkeit.
Viertel nach drei war der Mord geschehen, also besorgte man sich ein Alibi für Viertel nach drei. Aber ... er selbst war doch erst kurz vor vier beim Leichnam angekommen. Und er hatte keine Ahnung gehabt, wann Lorenz Schmidt wirklich gestorben war. Natürlich ... der Mörder wusste den Zeitpunkt des Todes. Knapproth ... war jedoch nicht der Mörder. Aber dann ...!
Frank Falke nahm seine Beine in die Hand. Er rannte die Treppe hinauf. Er durchquerte das Restaurant. Da waren die beiden Frauen. Er ging an ihnen vorbei. Er stürmte die Treppe zum Oberdeck hinauf. Es gab keinen vernünftigen Grund für diese Eile. Aber ...
Sie standen wieder nebeneinander. „Das dürfen Sie nicht.“ Frank Falke zeigte noch einmal auf die kleine blaue Verbotstafel. „Wann hat Lorenz Schmidt das zu Ihnen gesagt?“
Ingmar Hagedorn sah ihn fest an. „In Portugal.“ Traurigkeit war in seinen Augen.
„Sie haben ihn umgebracht.“
„Ja. Danke, dass Sie fragen. Ich konnte ... ich wollte ... ich wollte es schon längst sagen. Gestern auch. Doch ... ich konnte nicht.“
„Wollen Sie mir nicht die ganze Geschichte erzählen?“
Hagedorn nickte. „Ja.“
Sie sahen hinaus aufs Wasser. Frank Falke wartete. „Vor acht Jahren ... Ich habe Ihnen doch schon erzählt, dass Babette Allergikerin war. Wir saßen in einem Straßencafé an der Algarve. In Fuzeta. Kennen Sie Portugal?“
„Nein.“
„Na dann.“ Er zögerte, stoppte. „Jedenfalls wurde Babette von einer Wespe gestochen. Und wir hatten das Antidot im Auto vergessen.“ Er blickte Frank Falke flehend an. „Wir passten immer auf. Aber an diesem Tag ... Ich bin dann so schnell ich konnte zum Auto gelaufen. Habe die Autotür aufgerissen, mich ins Auto geworfen und die Spritze gesucht. Ich fand sie auch gleich. Und da ...“
„Ja?“
„Jemand wollte ausparken. Ein Deutscher. Er kam an meiner offenen Autotür nicht vorbei. Er hat mich angebrüllt. ‘Das dürfen Sie nicht!’ hat er geschrien. ‘Das ist verkehrswidrig.’ Und noch mehr in der Art. Und dann ...“
„Ja?“
„Mir ist vor Schreck die Spritze heruntergefallen. Sie ist unter das Auto gekullert. Und“, er zögerte, „ich habe die Autotür zugemacht. Der andere ist dann weggefahren. Ich hatte ihn kaum gesehen. Ich wusste nicht, wer er war. Nachdem er weg war, habe ich die Spritze gesucht und bin zu Babette zurückgelaufen. Aber da ...“
Ingmar Hagedorn blickte ins Leere. Die Zeit dehnte sich, er zögerte. „... da war Babette schon tot. Bei diesen Allergien ... geht es um wenige Minuten. Das glaubt man nicht. Ich wusste das. Und ich habe die Autotür zugemacht. Und die Spritze ist mir heruntergefallen. Und Babette war tot.“
„War dieser Autofahrer Lorenz Schmidt?“
„Das wusste ich nicht. Wirklich nicht. Ich hatte ihn ja kaum gesehen. Aber am Sonntag ... bin ich spazieren gegangen. Um die Odde, so wie Sie auch. Als ich oben an der Spitze war, musste ich mal. Aber wohin? Alle können einen sehen. Deshalb wollte ich über den Zaun steigen. Ins Vogelschutzgebiet. Dort stehen Schilder, wissen Sie, wo drauf steht, dass man das nicht darf. Und wie ich gerade über den Zaun steigen will, höre ich hinter mir eine Stimme:'Das dürfen Sie nicht!' Da habe ich die Stimme erkannt. Und einen Stein genommen und zugeschlagen.“
Frank Falke wurde gewahr, dass Ingmar Hagedorns Gesicht eine Art von Begeisterung zeigte. „Zugeschlagen, so fest ich konnte. Nur einmal, aber es hat gereicht. Dann war er tot. Und es war wirklich seine Stimme. Wirklich. Es war nicht der Falsche.“
Sie schwiegen. „Und danach?“
„Ich war wie von Sinnen. Da lag dieser Zettel neben ihm. Ich habe ihm das Blut abgewischt, aber er war schon tot. Dann bin ich über den Zaun, ich musste doch immer noch. Ich bin ein Stück in die Dünen und danach bin ich liegengeblieben. Ich war wie betäubt. Plötzlich kam Frau Marxen. Sie hat ...“ Er brach ab. „Muss ich das sagen?“
„Sie müssen gar nichts sagen. Nein.“
„Danach bin ich weg. Über die Dünen. Ich wollte mich stellen. Ehrlich. Ganz ehrlich. Aber als ich zurück kam, waren Sie schon da und Knapproth presste mir das Alibi ab. Da wurde mir klar, dass ich damit auch ein Alibi hatte. Außerdem die Geschichte mit Ihrem Unbekannten. Ich habe das nicht verstanden. Und nichts gesagt.“ Er sah Frank Falke an. „So war das.“
Sie blickten wieder aufs Meer. Frank Falke wurde gewahr, dass Ingmar Hagedorn weinte. Irgendwo auf dem Schiff lachte ein Kind. Eine Windbö beförderte eine Plastiktüte ins Meer,. Eigentlich sollten hier keine Plastiktüten herumfliegen.
„Es war“, Ingmar Hagedorn stockte, nahm erneut Anlauf, „es war, als ob in einem Moment des Lebens der ganze Boden verschwindet. Alles, worauf man gestanden hat. In einer Sekunde. Einen Menschen zu töten ... Wie bei diesem Sand, wie heißt der, Treibsand. Man steht da, sackt plötzlich ein und kommt nie wieder raus.“ Er sah Frank Falke an. „Kennen Sie das?“
„Nein.“ Plötzlich musste er an das gestrige Erlebnis mit Detlef Knapproth denken, als er wie ein Verrückter und völlig von Sinnen auf ihn eingeschlagen hatte. Er hatte es nicht ertragen können, dieses wehrlose Mädchen und dieser ... „Doch, das kenne ich auch.“
„Aber nicht so wie ich.“
„Was werden Sie jetzt tun?
„Ich werde mich stellen. Ich wollte das schon lange ... Man ist so feige. Ich bin froh, dass es vorbei ist.“
Falke sah ihn an, wandte den Blick ab, sah in die aufgewühlten Fluten. Konnte er das Gleiche sagen? Wann würde die nächste Leiche, das nächste Mordopfer seinen Weg kreuzen? In der Ferne tauchte das Festland auf.
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