EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 15:  Das Tatmotiv

Das Motiv war Liebe, erkennt Pastor Falke beim Nachdenken
über die Tat. Ingmar Hagedorn will nicht länger schweigen.

Das Rätsel war gelöst. Die Erkenntnis war nicht plötzlich gekommen, sondern gereift in den Stunden des Vormittags. Er hatte ja genug Zeit zum Nachdenken. Nicht das Wer? oder das Wie? – die Frage, wohin der Täter verschwunden war, blieb nach wie vor ungeklärt, wenn es nicht doch Sybille Marxen war. Aber das Warum? der Tat war ihm deutlich geworden. Und er hatte sich geirrt.
    Doch jetzt wusste er Bescheid. Endlich war er Kommissar Wegener einen Schritt voraus, vermutlich jedenfalls. Es ging nicht um die Erbschaft, darum war es nie gegangen. Lorenz Schmidt hatte sich vor Wochen schon das Zimmer bei den Boysens besorgt, das Einzelzimmer, das war es, was ihm solange nicht eingefallen war, und wahrscheinlich hatte Schmidt auch dafür gesorgt – oder zumindest dafür plädiert, die diesjährige Dichtertagung auf Amrum stattfinden zu lassen. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, die Jahrestagung und die Bearbeitung des Erbfalles – vermutlich hatte Lorenz Schmidt es genau so angesehen, als sachliche Erledigung einer behördlichen Angelegenheit. Beides zusammen mit einem Urlaub zu verbinden, das passte ganz gut zu dem Bild von Enge und Sparsamkeit, das von Lorenz Schmidt inzwischen in Frank Falkes Kopf entstanden war. Aber deshalb war er nicht ermordet worden. Inzwischen war er ganz sicher: Es ging um Liebe. Lorenz Schmidt, der sachliche Beamte, unfähig zu Gefühlen, zur wirklichen Wahrnehmung seiner Mitmenschen, und auf der anderen Seite Menschen, die ihn dennoch liebten und hassten. Ein Mensch, den er in seiner Gefühllosigkeit zutiefst verletzt haben musste. Das war es! „Und so einer traut Menschen“, hatte Kattrin Engels vor einiger Zeit gesagt. Die Frage war, ob sie damit nicht ...
    „Kattrin ist hier gewesen!“ Sybille Marxen platzte ins Zimmer. „Was hat sie gesagt? Was hat sie Ihnen über mich erzählt?“
    Frank Falke brauchte eine Schrecksekunde, bevor er antworten konnte. Dennoch, die Gelegenheit galt es beim Schopf zu packen. „Setzen Sie sich doch.“
    „Ich ...“ Sie zögerte, wirkte trotzig, irgendwie kindlich. „Was hat Kattrin ...“
    „Sind Sie eifersüchtig?“ Mit welcher Leichtigkeit er indiskrete Fragen stellte, fiel ihm auf.
    „Auf die eifersüchtig? Hat sie das gesagt?“
    „Ich hatte den Eindruck. Sie sind ihr nachgegangen am Sonntag.“
    Sybille Marxen starrte ihn an, ließ den Türgriff los, den sie die ganze Zeit festgehalten hatte. „Sie hat es Ihnen erzählt.“
    „Na gut, am Sonntag wollte Kattrin mit Herrn Schmidt reden. ... Da bin ich ihr nach. Sie hat Schmidt an diesem Seemannsfriedhof getroffen, dann sind sie essen gegangen. Wie nett sie zu ihm war. Und jetzt hat sie etwas mit Knapproth.“
    Frank Falke runzelte die Stirn. „Sind Sie sicher?“
    „Knapproth hat irgendetwas“, Sybille Marxen lächelte plötzlich süffisant, „das merkt man als Frau. Und mit wem, wenn nicht mit Kattrin. Kattrin ist auch so komisch.“ Plötzlich kamen Tränen. „So gehässig.“ Sie riss sich zusammen. „Aber dafür wird sie ...“
    „Wie ging das am Sonntag weiter?“
    „Warum fragen Sie eigentlich nicht nach gestern Nachmittag?“
    „Haben Sie mich niedergeschlagen?“
    „Nein, natürlich nicht.“
    „Natürlich ist das gar nicht. Jemand hat mich niedergeschlagen.“ Er sah sie an, wusste, dass es sinnlos war, weiter auf der Frage zu beharren. „Und wie ging es am Sonntag weiter?“
    „Kattrin hat mich entdeckt. Weggeschickt hat sie mich, wie ein Kind. Ich bin trotzdem geblieben. So nicht! Dann ist sie mit Schmidt davongefahren und ich musste auf den Bus warten. Als ich hier ankam, war Kattrin schon weg und Schmidt unterwegs zur Odde. Ich habe ihn gerade noch gesehen, da oben, wo der Teerdeich anfängt. Ich habe nämlich gute Augen. Immer noch.“

    „Und da sind Sie hinterher.“ „Wären Sie das nicht? Wenn Ihre Frau sich heimlich mit einem anderen trifft? Das hatten die sich ganz schön raffiniert ausgadacht, die beiden, nachdem ich sie gesehen hatte.“ Ihre Stimme überschlug sich, wurde erneut weinerlich. „Sie wären da auch hinterher. Das wäre Ihnen mit ihrer Frau auch nicht egal, oder?“
    Er antwortete nicht und fragte stattdessen: „Und dann?“
    „Ich habe ihn nicht gesehen. Irgendwann war er weg.“ Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. „Es regnete. Ich bin umgedreht.“
    „Sie haben ihn gesehen. Und ...“
    „Nein, habe ich nicht. ... Und wenn ich sage, dass ich Kattrin gesehen habe? Bei Lorenz Schmidt? Was sagen Sie dann?“
    Frank Falke war vor Überraschung einen Moment lang sprachlos. „Haben Sie sie gesehen?“ fragte er endlich.
    „Das würde ich nie sagen. Das würde ich ihr nicht antun. Sehen Sie, Sie wissen gar nichts. Gar nichts!“ Sie schob trotzig das Kinn vor. „Mich hat keiner gesehen. Ich bin umgedreht.“

    „Tag, Herr Pastor.“ Detlef Knapproth riss die Tür auf. Das Türblatt knallte gegen Sybille Marxens Ellenbogen. „Au!“ Sie warf ihm einen hasserfüllten Blick zu, verschwand stumm aus der Tür.
    „Was ist denn in die gefahren? Na, erkennen Sie mich überhaupt? Oder ist der Schädel noch zu?“ Seine Fröhlichkeit wirkte unecht. Eine Welle von Nervosität ging von ihm aus.
    „Können Sie sich eigentlich an irgendetwas erinnern von gestern?“
    „Warum fragen Sie? Nein, kann ich nicht.“ Täuschte er sich oder atmete Detlef Knapproth sichtlich auf.
    „Ich dachte ja nur, falls ich helfen kann. Sie brauchen ja nicht immer Hagedorn zu fragen, der kann so etwas sowieso nicht. Aber dann. Tja, ich muss weiter. Gute Besserung, bis heute Abend.“
    Er ging. Frank Falke sah ihm verwundert nach. Was hatte dieser Besuch zu bedeuten? Und das seltsame Angebot, ihm zu helfen? Oder war es wirklich ernst gemeint? Andererseits passte diese Hilfsbereitschaft so ganz und gar nicht zu Detlef Knapproth. Und wie nervös er gewesen war.

    Frank Falke zuckte mit den Achseln. Seine Überlegungen von vorhin ... Lorenz Schmidt und die Liebe. Überhaupt die Liebe – die beiden Frauen mit ihrer sonderbaren Beziehung, Detlef Knapproth ...
    Er habe etwas mit Kattrin Engels, so hatte Sybille Marxen behauptet. Vielleicht stimmte es. Es war nicht zu übersehen gewesen, wie Detlef Knapproth sich am Abend vor dem Mord um Kattrin Engels bemüht hatte. Sein ganzes Gehabe drückte Sehnsucht aus, trotzige Sehnsucht eines Mannes, dessen Zeit vorbei ist und der es nicht wahrhaben will. Allein seine auffallend unpassende Kleidung. Frank Falke hatte keinen Blick für Kleidung, aber Detlef Knapproth fiel selbst ihm auf. Ein Mann, der mit Gewalt jung sein wollte und damit seine Chance verspielte, jung zu sein.
    Die Liebe ... Kattrin Engels und die Liebe. Ihr Hass auf Lorenz Schmidt, nach wie vor lebendig und brodelnd. Eine seltsame Verbindung die beiden, Lorenz Schmidt und sie. Jetzt war sie mit Sybille Marxen zusammen, und auch diese Verbindung konnte er sich kaum vorstellen.
    Sybille Marxen und die Liebe, die Partnerin von Kattrin Engels, falls dieses Wort noch zutraf. Eine gestandene Frau im Strudel ihrer Gefühle. Hilflos wie ein Teenager, die Liebe als ungebetener Fluch, der einem den Boden raubte, verletzlich machte, wo man sich stark gefühlt hatte, eifersüchtig, unvernünftig und ...
    Noch jemand fiel ihm ein: Jessica. Auch Jessica war verliebt, so hatte sie ihm erzählt. Die unschuldige erste Liebe ihres Lebens. Auch Jessica strahlte Sehnsucht aus, Sehnsucht nach mehr, das Gefühl, bisher im Leben nicht genug bekommen zu haben. Jetzt war sie verliebt in einen Jungen, nein, kein Junge, so hatte sie betont, eher ein Mann, jedenfalls in Jessicas Augen, einer, der schon Geld verdiente, der ihr etwas schenken konnte, selbst etwas Teueres, ein Mann ...
    Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Es war entsetzlich ... widerwärtig ... Er konnte es nicht glauben und doch musste es so sein. Alles passte zusammen. Pastor Falke spürte seine Erregung. Das Eis fiel ihm wieder ein. In jeder Hand ein Eis. Eines für sich und das andere ... Und die Begegnung beim Essen bei Hüttmanns ...
    Auf einmal wusste er, wer Lorenz Schmidt ermordet hatte und warum. Und noch etwas spürte er: grenzenlose Gefahr. Es ging um Leben und Tod. Frank Falke begann zu überlegen...

    Ingmar Hagedorn hatte genug überlegt. Er spürte, wie seine Hände vor Aufregung zitterten, sein ganzer Körper bebte. Es musste sein. Es hatte lange genug gedauert, diese Heimlichkeit, dieses Versteckspiel. Irgendwie war er froh, dass alles herauskam. Es war egal, was danach passieren würde ... nur eines durfte keinesfalls geschehen: ein zweiter Mord! Deshalb ...
    Er öffnete die Haustür, eilte zur Treppe, erklomm die Treppenstufen. Unten im Flur stand Frauke Boysen. „Der Pastor braucht Ruhe. Das ist ja wie im Taubenschlag.“
    Woher wusste sie, dass er zum Pastor wollte? Er blieb stehen. Plötzlich fiel ihm Babette ein. Jene tragischen Minuten ihres Sterbens, die ihn seitdem nie wieder verlassen hatten, jene Ereignisse, die ihn zum Dichter gemacht hatten – und zum ... In ihm schrie es. Nicht noch einmal! Nie wieder! Dieses Zögern, dieses Gehorchen ... Er lief weiter.
    Er riss die Zimmertür des Pastors auf. „Oh, Entschuldigung!“
    Pastor Falke stand neben dem Bett, war dabei sich anzuziehen, zog sich gerade das Hemd über den Kopf.
    „Was gibt es?“
    Er bemerkte den fragenden Blick des Pastors.
    „Ein Mord! Gleich“, er spürte seine Atemlosigkeit, „wenn wir nicht zu spät kommen. Sie müssen mir helfen!“

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