EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 7:  Verdächtigungen

Die Kriminalpolizei untersucht den Fall. Offenbar betrauert niemand
den Toten. Und die Vereinsquerelen gehen unvermindert weiter.

„Ich verstehe das nicht.“ Ingmar Hagedorn schüttelte den Kopf, schien aus seiner Lethargie zu erwachen. „Dieser Mann da ... Wer war er?“
     „Na, für mich ist die Sache klar. Da hat jemand vor, den Schmidt zu ermorden. Ist doch egal, wer er war.“ Dr. Schneiber wiegte theatralisch den Kopf. „Traurig, traurig, das Ganze. Aber andererseits haben wir damit nichts zu tun. Deshalb werden die Veranstaltungen auch weiterhin stattfinden. Ich werde selbstverständlich dafür sorgen, dass ein schwarzes Trauerband um das Lesepult drapiert wird. Und natürlich ein paar passende Worte sagen. Was für ein Verlsut für unseren Verein!“ Er stand auf, verließ hastig den Raum.
     „Schneiber ist herzlos.“ Detlef Knapproth wandte sich an die anderen. „Warum sollte jemand Schmidt ermorden? Der war doch harmlos, na ja, pedantisch, verklemmt, langweilig, okay, aber deshalb bringt man doch keinen um.“
     „Er ist aber tot.“
     „Ja, natürlich. Aber er kannte doch keinen hier auf der Insel. Das weiß ich ganz genau. Und die Einzigen, mit denen er sich gestritten hat, waren ...“
     Sybille Marxen bekam ein knallrotes Gesicht. Sie lügt, dachte Frank Falke spontan. Sie hatte den Leichnam gesehen, davon war er plötzlich überzeugt. Ihre innere Erregung, die er schon bei ihrer Begegnung am Strand gespürt hatte, der knappe, fast unfreundliche Gruß, das schnelle Davoneilen, nein, er war sicher, dass sie ebenfalls dem Toten begegnet war. Aber ... aber hatte sie ihn auch umgebracht? Und was war dann mit dem seltsamen Fremden?
    
     *
    
Jemand klopfte an die Haustür. Frauke Boysen ging, das Geschirrhandtuch in der Hand, hinaus. „Kriminalpolizei.“ Zwei junge Männer standen vor der Tür. „Ein Herr Lorenz Schmidt hat hier gewohnt? Könnten wir sein Zimmer sehen?“
     „Wie? Oh ja, selbstverständlich.“ Sie führte die beiden Beamten die Treppe hinauf, öffnete die Tür zu Lorenz Schmidts Zimmer. Die Beamten traten ein. Sie sahen sich bedächtig um. Frauke Boysen blieb an der Tür stehen.
     „Wir werden das Zimmer morgen gründlich untersuchen. Bis dahin müssen wir es versiegeln. Sind Sie, Frau Boysen, in dem Zimmer gewesen, um Betten zu machen oder so?“ Sie nickte. „Ist etwas ungewöhnlich in dem Zimmer? Anders? Fehlt etwas?“
     „Auf der Kommode. Da lagen lauter alte Papiere. Und ein alter Totenschein. Den Namen konnte ich nicht lesen.“
     „Ein Totenschein?“
     „Mehr weiß ich auch nicht. Da, in der Mappe. So ein alter Totenschein halt. In deutscher Schrift, aber schwer zu lesen.“ Einer der Beamten grinste. Sie blickte ihn irritiert an. „Heute Morgen war er noch da. Mehr weiß ich auch nicht.
     „Vielleicht hat er ihn ja woanders hingelegt. Sind Sie sicher, dass es sich um einen Totenschein handelte?“
     Er hat ihn nicht verlegt, dachte sie ärgerlich. Schmidt war ein ordentlicher Gast gewesen. Solche Gäste pflegten sich gleich beim Einzug einzurichten und dann alles dabei zu belassen. Mit Gästen kannte sie sich aus. Und heute Vormittag beim Bettenmachen war das Ding ja auch noch da gewesen, wenn auch in einer Mappe. Sie hatte es aber trotzdem gesehen. Die Mappe zu öffnen hatte sie jedoch nicht gewagt.
     Die Beamten gingen im Zimmer umher. „Wir würden gern auch mit Pastor Falke sprechen. Er wohnt ebenfalls hier.“ Sie verließen das Zimmer, die Beamten schlossen ab, behielten den Schlüssel für sich, klebten ein Siegel an die Tür. Mit dem Zimmer für Jessica wurde es also vorerst nichts. Zu schade. Sie ging die Treppe hinunter.
     „Okke, stell dir vor, beim Schmidt im Zimmer fehlt was. Der Totenschein ist weg.“
     „Oh ja.“
     Frauke Boysen sah ihn überrascht an. Was war eigentlich los? „Was soll das heißen, oh ja. Weißt du was von einem Totenschein?“
     Okke rührte sich nicht auf der Bank.
     „Also raus mit der Sprache.“
     „Nun reicht es aber, Frauke. Spiel dich nicht so auf. Was soll schon sein? Schmidt hat mir davon erzählt. Heute Mittag. Und was weiß ich, wo das Ding ist. Vielleicht hat er es einfach mitgenommen.“
     An der Tür klopfte es. Pastor Falke guckte herein. Er sah müde aus, kein Wunder, bei dem, was der arme Mann durchgemacht hatte. Wenn man sich das vorstellte, so allein mit der Leiche ...
     „Frau Boysen, die Herren von der Polizei wollen mich einiges fragen. Ist es in Ordnung, wenn wir in die Gaststube gehen?“ Sie nickte. „Und könnte ich morgen das Frühstück sehr zeitig bekommen? Ich muss nach Kiel, um diesen Fremden zu identifizieren. Per Computer“, fügte er erläuternd hinzu.
     „Nach Kiel? Wie früh?“
     „Die Fähre fährt um Viertel vor acht“, ertönte es aus dem Hintergrund. „Viertel vor sieben?“
     „Ja, das geht. Aber nur ausnahmsweise. Man muss ja auch mal ausschlafen können. Sie hätten das auch nötig, Herr Pastor.“
     Pastor Falke dankte, verließ die Küche. „Das ganze Haus ist in Aufruhr. Die Polizei im Haus, das hatten wir noch nie. Nie in all den Jahren.“ Sie ging zum Spültisch, begann das Geschirrhandtuch zu suchen, „und du willst mir nicht einmal sagen, wo ... Wo ist denn das Handtuch?“
     „Du hast es vorhin mitgenommen.“ Ärgerlich verließ sie die Küche. Sie sah das Geschirrtuch oben über der Brüstung hängen, stieg die Treppe hinauf.
     „Nicht so laut!“ drang eine Stimme aus dem Zimmer der beiden Frauen.
     „Und ich habe dich verdächtigt“, antwortete die andere. Frauke Boysen packte ihr Geschirrtuch, drehte sich um, hatte kein Bedürfnis zu lauschen. Dennoch, die laute Stimme war nicht zu überhören. „Ich habe dir Unrecht getan. Es tut mir Leid.“
     „Nicht so laut!“
     „Du hast ihn umgebracht. Für mich. Danke, ich danke dir!“
    
     *
     „Kann ich einen Augenblick mit Ihnen reden?“ Dr. Schneiber verließ seinen Büchertisch, eilte auf Kattrin Engels zu. Es war kurz nach neun. Die tägliche Dichterlesung hatte stattgefunden, das Publikum war auf dem Weg nach Hause, einige wenige standen noch vor den Büchertischen, andere waren auf dem Weg ins Restaurant oder in die Entenschnack-Bar. Auch an diesem Abend wie schon am Tage zuvor war die Veranstaltung bis auf den letzten Platz besucht gewesen. „Ja, worum geht es?“
     „Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.“ Dr. Schneiber lächelte verhalten. „Wo ist Frau Marxen?“
     „Woher soll ich das wissen?“
     Dr. Schneiber sah sie überrascht an. Der schroffe Tonfall verblüffte ihn. Sonst waren die beiden doch unzertrennlich gewesen. Im Verein hatten sie schon oft gespottet, die Gedichte der beiden in einer gemeinsamen Ausgabe als MEW – Marx-Engels-Werke – herauszugeben. Er drängte den Gedanken zur Seite. Es kam darauf an, freundlich zu sein.
     „Kommen Sie, hier ist ein Tisch frei.“ Er führte Kattrin Engels in die Bar. „Ah, da ist ja auch Frau Marxen.“
     Er komplimentierte Sybille Marxen zu ihnen an den Tisch. „Möchten Sie ein Glas Wein trinken? Und Sie, Frau Marxen?“
     „Ich finde das eklig.“
     „Wie bitte? Den Wein?“
     „Das Publikum. Haben Sie gesehen, wie viele da waren? Die sind doch nicht wegen der Gedichte gekommen. Das hat Lorenz nicht verdient. Auch wenn er sich immer Publikum gewünscht hat.“ Plötzlich grinste sie. „Na ja, nun hat er es.
     „Worüber wo“llten Sie mit uns sprechen, Dr. Schneiber?“
     „Also“, jetzt hieß es gut zu formulieren, „es geht um die Jahreshauptversammlung morgen Nachmittag. Ich denke, wir werden nicht allzu lange brauchen. Kassenbericht, Rechenschaftsbericht des Vorstandes, den ich geben werde, Neuwahlen ...“
     „Sie kandidieren wieder?“
     „Ja. Soviel ich weiß, gibt es auch keinen Gegenkandidaten ...“
     Er betrachtete die beiden genau. Keine verdächtige Reaktion. Der Wein wurde gebracht. „Na, denn Prosit ... Sie meinen, dass Herr Knapproth ...“
     Also doch! Er hatte sich nicht getäuscht. Dr. Schneiber stellte das Weinglas hastig auf den Tisch zurück. „Genau darum geht es. Es wäre ein Katastrophe für unseren Verein. Dieser Mann im Vorstand. Ich“, er zögerte, „ich hoffe, Sie wissen, für wen Sie sich entscheiden würden.“
     „Für Sie natürlich.“ Sybille Marxen sagte es ohne Argwohn. „Danke. Sehen Sie, ich frage mich, ob Knapproth für unseren Verein überhaupt tragbar ist. Sein Verhalten – ich muss sagen, nicht nur in den letzten Tagen, vorher auch schon – finde ich vereinsschädigend.“„
     „Sie wollen ihn also ausschließen.“ Kattrin Engels lachte kurz. „Ich habe mich schon gefragt, was hinter Ihrer Drohung vorgestern Abend stand.“
     „Also das ist zu viel gesagt. So ein Ausschluss ist nicht einfach, da müssen schon handfeste Gründe vorliegen. Es sei denn, natürlich“, plötzlich stand ihm Schweiß auf der Stirn, „es sei denn, Herr Knapproth wäre am Tod des armen Schmidt doch nicht so unbeteiligt, wie er gesagt hat.“
     „Detlef Knapproth?“
     Sie sagten es beide wie aus einem Munde.
     „Na ja, wie soll ich es sagen. Fiel es Ihnen nicht auf, wie er sofort mit seinem Alibi zur Hand war?“
     „Aber Knapproth war es nicht!“
     Er schaute Sybille Marxen verblüfft an. „Ich ... äh ... meine ...“
     „Sie kann sich das nicht vorstellen“, sagte Kattrin Engels kalt.„Sie hat andere Verdächtige. Ich übrigens auch. Und was ist mit jenem ominösen Unbekannten?“

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