EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 5:  Die Erbschaft

Lorenz Schmidt hat eine Entdeckung gemacht: eine widerrechtlich
angetretene Erbschaft. Und warum rennt Sybille Marxen davon?

„Wie bitte? Du hast tatsächlich?“ „Guck nicht so böse. Ich meine, wer kennt den schon? Ich hatte zufällig ein Gedicht von ihm ... Es sind ja nur vier Zeilen.“
     „Sybille!“ Sie zuckte zusammen unter der schneidenden Stimme ihrer Freundin. Kattrin stand auf, begann auf und ab zu gehen. „Sybille, bist du verrückt? Wie konntest du nur? Ein Plagiat, Diebstahl geistigen Eigentums. Ist dir eigentlich klar, dass darauf Gefängnis steht, bis zu drei Jahren? Im schlimmsten Fall jedenfalls.“
     „Meinst du, Schneiber wird mich anzeigen?“ Sie versuchte sich am Stuhl festzuhalten. Trotz stieg in ihr auf. Alles nur wegen ein paar Zeilen!
     „Vergiss Schneiber. Lorenz ist das Problem.“
     „Lorenz?“ „Schmidt meine ich.“ Kattrin beendete ihre unruhige Wanderung. „Ich werde mit ihm reden.“
     Ein Gedanke kam Sybille in den Sinn. Mehr als ein Verdacht. Sie sah Kattrin fest an. „Du hattest etwas mit ihm. Mit Schmidt. Sei ehrlich. Ausgerechnet mit Schmidt!“ Empörung flutete über sie hinweg, Eifersucht. „Mit Schmidt! Und nenn mich nicht immer Kleines, ich bin älter als du!“
    
     *
    
     Einer spontanen Eingebung folgend, beschloss Falke, mit dem Bus nach Nebel zu fahren und die eigentliche Amrumer Inselkirche zu besichtigen.
     Eine halbe Stunde später stieg er in Nebel aus dem Bus. Einer weiteren Eingebung folgend, war er weiter Richtung Ortsende gefahren, in die Nähe der alten Windmühle. Auf seinem Inselplan hatte er entdeckt, dass der Friedhof der namenlosen Toten sich direkt gegenüber der Mühle befand. Ein Friedhof, so hatte er gelesen, auf dem die am Strand angeschwemmten Leichen beerdigt worden waren, die man nicht hatte identifizieren können. Ein namenloser Tod ...
     Frank Falke öffnete die Pforte und ging hinein. Eine Reihe schlichter Holzkreuze zog sich an der Hecke entlang. Auf jedem Holzkreuz war ein Datum eingraviert, mehr nicht. Es war vermutlich nicht einmal der Todestag, sondern der Tag, an dem man die Leiche am Strand gefunden hatte. Ein Gedenkstein in der Mitte trug die Verse Lukas 10, 20: Freut euch aber, daß eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.
     „Guten Tag, Herr Pfarrer. Berufliches Interesse?“
     Frank Falke drehte sich um. Lorenz Schmidt hatte die Einfriedung betreten, Notizblock und Schreiber in der Hand. Man trifft sich hier überall, musste er unwillkürlich denken. Auf dem Weg zum Bus in Norddorf hatte er Detlef Knapproth gesehen, eilig davon hastend, in jeder Hand ein Eis. Und nun hier Lorenz Schmidt. Dabei war die Insel doch gar nicht so klein.
     Dies hier ist etwas Besonderes. Der Friedhof der namenlosen Toten. Die letzte Ruhestätte derjenigen, die das Meer hier ans Land gespült hat. Aber das wissen Sie wahrscheinlich schon.“
     Frank Falke nickte, deutete auf Notizblock und Schreiber. „Führen Sie hier Studien durch? Oder suchen Sie jemanden?“
     Lorenz Schmidt zögerte. „Ja.“ Er kam näher. „Ja, ich suche jemand.“ Er ging langsam an Frank Falke vorbei, weiter die Reihe der Kreuze entlang, blieb schließlich vor einem Holzkreuz stehen. „Sie sind Pastor, nicht wahr? Sie stehen unter dem Beichtgeheimnis.“
     „Dies ist keine Beichte, oder?“
     Natürlich nicht. Aber ... warum nicht? Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen. Mögen Sie zuhören? Die Geschichte beginnt in Hamburg. Im Jahr 1923. Es ist die Zeit der großen Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit. Unordnung – na ja, der Mann jedenfalls“, er zögerte, „ich will ihn ... ihn ... Karl nennen, ja Karl, Karl also ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und ist arbeitslos. Karl hat schon oft davon gesprochen, auszuwandern. Jedenfalls hat das seine Witwe später zu Protokoll gegeben. Am 2. November ist es dann soweit. Karl ist verschwunden, ebenso fehlt ein Rucksack und einige Wäsche. Ein Brief liegt für seine Frau bereit, in dem Karl erklärt, er werde sein Glück machen und wiederkommen. Am 12. November des Jahres wird auf Amrum ein männlicher Leichnam angetrieben. Da es keine passende Vermisstenmeldung gibt und die Leiche nicht identifiziert werden kann, wird er als unbekannter Toter beerdigt.“ Er deutete stolz auf das Holzkreuz. „Seine Frau aber ahnt nichts davon. Für sie ist er immer noch unterwegs nach Amerika.“
     Lorenz Schmidt erhob seinen Zeigefinger. „Nun passiert folgendes: Am 20. November verstirbt völlig überraschend ein entfernter Verwandter von Karl. Der Verwandte ist kinderlos, Karl ist der nächste Angehörige, danach wäre ein Cousin von Karl an der Reihe gewesen. Doch Karl ist ja schon tot, seit über einer Woche ist er auf Amrum begraben. Aber niemand weiß das. Und so erbt Karl, und zwar ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Erst zwei Jahre später, nachdem jedes Lebenszeichen von ihm ausbleibt, entschließt sich seine Frau, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Für tot erklärt wird er erst während des Dritten Reiches. Verstehen Sie ?“
     „Ja ... Nein.“ Frank Falke schüttelte den Kopf. „Und woher wissen Sie, dass dieser Tote hier Ihr Karl ist?“
     „Einer, der als Totengräber geholfen hat, ein junger Amrumer Landwirt, hat Tagebuch geführt. Es war sein erster Toter. In den fünfziger Jahren sind seine Erinnerungen als Heimatliteratur veröffentlicht worden. Seine Beschreibung des Toten deckt sich genau mit der Vermisstenanzeige – Alter, Statur, Haarfarbe, Kleidung. Es gibt keinen Zweifel.“ „Eine interessante Geschichte.“
     „Geschichte? Hier ist Unrecht geschehen! Es hat der Falsche geerbt. Unrecht, Herr Pastor.“
     „Aber Sie wollen doch nicht ... eine so alte Erbschaftsgeschichte wieder ausgraben. Tun Sie das nicht. Davon haben Sie nichts.“
     „Wieso ich?“ „Ist Karl kein Verwandter von Ihnen?“ „Natürlich nicht.“ „Und kennen Sie die richtigen Erben?“
     „Das muss ich nicht sagen.Sie können sch natürlich ihr Teil denken. Aber so viel will ich Ihnen doch verraten, dass ...“ Urplötzlich hielt Lorenz Schmidt inne. Kattrin Engels war in die Pforte getreten. Frank Falke hatte es nicht bemerkt. Er wusste nicht, wie lange Kattrin Engels schon dort gestanden hatte. Sie grinste, lächelte herausfordernd. Hatte sie Lorenz Schmidts Geschichte gehört? Jedenfalls wirkte er verlegen.
     „Guten Tag.“
     „Guten Tag“, antworteten sie beide. Lorenz Schmidt neigte sich ihm zu. „Es war Unrecht“, begann er zu flüstern, „allein darum geht es. Unrecht, Herr Pfarrer, Unrecht.“
     Es war nicht recht. Frauke Boysen schüttelte den Kopf, führte das Bügeleisen energisch am Hosenbein entlang, das auf dem Bügelbrett lag. Sie fühlte sich allein gelassen. Okke hätte sich gefälligst auch ein wenig kümmern können. Dabei sah es ihrem Mann gar nicht ähnlich, so mir nichts – dir nichts zu verschwinden.
     Okke hatte ihr versprochen, den Abfluss zu reparieren. Was war nur in ihn gefahren? Nach dem Mittagessen hatte er sich noch mit einigen Gästen unterhalten, hatte plötzlich sein Fahrrad hervorgeholt und war abgedampft. Na ja, er würde es ihr schon erzählen. Oder auch nicht. Wenn Okke nicht reden wollte, wollte er nicht.
     Eine Tür klappte.
     „Hallo?“ Keine Antwort.
     „Hallo?“ rief sie noch einmal und bewegte sich zur Treppe.
     „Ist da jemand?“ ertönte eine Stimme von oben. Es war keiner der Gäste. Wieder klappte eine Tür. Eine hagere Gestalt erschien am oberen Ende der Treppe.
     „Was haben Sie hier zu suchen?“ Das war eine Frechheit, einfach so in das Zimmer eines der Gäste zu gehen. Na so was!
     „Schneiber, Dr. Schneiber.“ Der Mann kam herunter. „Ich bin Dr. Schneiber, ich wollte zu Herrn Schmidt. Ist er zu Hause?“
     „Junger Mann“, sie stemmte ihre Arme in die Hüften, „das ist mein Haus. Und in meinem Haus geht keiner einfach so in die Zimmer meiner Gäste, verstanden? Da können Sie Doktor sein, soviel sie wollen.“
     „Es tut mir Leid.“ Dr. Schneiber wirkte sichtlich zerknirscht. „Ich habe mir nichts dabei gedacht...
     „Und dann brechen Sie einfach in mein Haus ein, einfach so?“
     „Entschuldigen Sie bitte. Wissen Sie, wo Herr Schmidt ist?“
     „Herr Schmidt ist spazieren gegangen.“
     „Und die anderen?“
     „Wer denken Sie, dass ich bin? Ich stecke meine Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute und schon gar nicht in die meiner Gäste. Herr Schmidt ist kurz nach zwei aufgebrochen, aber allein, nicht mit Frau Engels. Der junge Mann war nur kurz zum Mittag hier, ist dann wieder weg und die beiden Damen und der mit dem komischen Anzug – Knapproth – sind auch alle los, aber jeder für sich. Herr Falke ist auch schon wieder unterwegs. Er war heute Vormittag in der Kirche und dann in Nebel, sagte er mir. Aber warum sage ich Ihnen das? Das geht Sie alles gar nichts an.
     „Danke.“ Dr. Schneiber grinste.
     Er verließ das Haus. Missmutig stapfte Frauke Boysen wieder zu ihrem Bügelbrett. Wo kamen sie denn hin, wenn jeder ein- und ausgehen konnte, wie er wollte? Sie waren doch nicht auf einem Bahnhof!
     Es begann zu regnen. Frank Falke zog sich die Kapuze über den Kopf, schnürte sie vor dem Kinn zusammen. Er hass-te es, so eingeschnürt zu sein, mit begrenztem Gesichtsfeld, aber einen anderen Schutz vor dem Regen gab es hier draußen nicht. Er befand sich auf dem Weg zur Nordspitze der Insel, der Odde.
     Jemand kam ihm entgegen. Zugleich schien der Regen schwächer zu werden.
     „Guten Tag!“ Als Dorfpastor war er gewohnt, die Menschen zu grüßen, auch Fremde. Zu seiner Überraschung war es Sybille Marxen. „Auch bei dem Regen unterwegs?“
     „Ja.“ Sie sah nicht auf, beachtete ihn kaum, hielt nicht einmal an. „Ich gehe zurück.“
     „Ja, ich ...“ Frank Falke brach ab, sah ihr nach, wie sie davonstapfte. Irgendetwas schien ihr in die Knochen gefahren zu sein, mehr als nur der Regen.

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