EVANGELISCHE ZEITUNG
   



| roman |  „treibsand“  –  der nordsee-krimi von christian uecker

Folge 1:  Die Gäste

Pastor Frank Falke fährt auf die Nordseeinsel Amrum,
um etwas Urlaub zu machen und den Pastorenkonvent zu besuchen

Eine Woche Inselleben lag vor ihm. Urlaub, dazwischen Klausurkonvent der Pastoren seines Kirchenkreises, Entspannung, Zeit zum Nachdenken. Als der Propst vor einigen Monaten angekündigt hatte, die diesjährige Klausurtagung des Konventes finde auf Amrum statt, hatte er spontan zugesagt. Und Annette hatte ihm zugeredet, einige Urlaubstage dranzuhängen.
     Nun war Frank Falke also im Urlaub. Niemand wusste, dass er Pastor war. Niemand fühlte sich bemüßigt, ihm seine Sünden zu beichten, niemand genötigt, ihm sein Verhältnis zur Kirche erklären zu müssen. Er war einer unter vielen – und er genoss es. Frank Falke war Pastor nicht aus irgendeiner Berufung geworden. Er war durch die Jugendarbeit seiner Heimatgemeinde zur Kirche gekommen und war im Studium nach und nach in den christlichen Glauben hinein-gewachsen. Und nun die Reise nach Amrum. An Bord der Fähre von Dagebüll nach Wittdün.
     „Das dürfen Sie nicht!“ Die herbe Stimme übertönte das Gekreische der Möwen. Frank Falke zuckte zusammen, drehte sich um. Eine Möwe stieß hervor, schnappte nach dem Brotstück, das er soeben geworfen hatte, während die anderen mit wütendem Gekreische zur Seite wichen. Der Schwarm formierte sich neu, erwartungsvoll.
     „Können Sie nicht lesen?“ Der Mann neben ihm deutete auf eine kleine Tafel, die auf der Metallwand gegenüber der Reling angebracht war. „Möwen füttern verboten. Da steht es. Bitte halten Sie sich daran.“
     „Entschuldigung!“ Frank Falke blickte schuldbewusst auf sein Butterbrot, dessen eine Hälfte bereits in den gierigen Schnäbeln der Möwen verschwunden war, begann die Reste des Brotes wieder in das Pergamentpapier zu wickeln. Die Möwen, enttäuscht über das abrupte Ende der Fütterung, suchten sich andere Ziele, segelten elegant über die Fähre. Der Mann würdigte ihn keines Blickes mehr und ging davon.
     Falke sah dem Mann nach. Ein Besserwisser, dachte er ärgerlich. In seiner akkuraten Regenjacke, bewaffnet mit Fotoapparat und Hängetasche, war er sicher kein Mitglied der Schiffsbesatzung. Einer, der immer allen Bescheid sagen musste.
     Frank Falke ging aufs Oberdeck. Am Horizont waren die Halligen zu sehen, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur, glitzernd im Morgenlicht, während der übrige Himmel trüb und wolkenverhangen war.
     Falke schaute versonnen in die Fluten. Das von den Schrauben bewegte Wasser hatte etwas Beruhigendes an sich. Und der Blick in die endlose Weite, die weiße Schaumspur der Fähre, die sich in der Ferne verlor. Er hatte es schon gespürt, als er die Fähre betreten hatte, dieses Herausgenommensein aus dem Alltag, den kräftigen Wind, der alles wegwehte, was an zu Hause erinnerte. Mit diesen Gedanken betrat er das Restaurant.
     „Hast du gesehen, wie der uns angestarrt hat?“ Eine ängstliche Frauenstimme riss ihn aus seinen Gedanken. Einige Tische von ihm entfernt hatten zwei Frauen an einem Tisch Platz genommen, die ältere mochte auf die Fünfzig zugehen, während die jüngere, gesegnet mit flammend rotem Haar, mindestens fünfzehn Jahre jünger war.
     „Lorenz Schmidt.“ Die Rothaarige lächelte grimmig. „Er hat mich noch nie mit dir zusammen gesehen. Doch daran wird er sich gewöhnen müssen.“
     „Er sah so ...“ Die ältere Frau zögerte, suchte nach Worten, „ich weiß nicht. Er sah so böse aus. Du kennst ihn?“
     „Ja. Und er ist böse, glaub mir.“
    „Er macht dir Angst?“ Sie beugte sich sanft zu ihrer Freundin hinüber, fuhr ihr zärtlich durch das Haar. Die Intimität der Berührung ließ Frank Falke zusammenzucken.
     „Hab keine Angst. Nicht vor dem. Ich passe auf dich auf.“
    Frank Falke wandte das Gesicht ab, fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Rolle als Beobachter. Er stand auf, warf einen letzten Blick auf das ungleiche Paar, das sich noch immer an den Händen festhielt. Ein Satz wehte ihm nach: „... der macht das nicht mehr lange, Sybille, der ...“
     „Aber so etwas darfst du doch nicht sagen ...“
    Frank Falke trat ins Freie. Die dichte Wolkendecke war jetzt aufgerissen, Sonnenstrahlen blitzten zwischen den Wolkenrändern hervor. Sie näherten sich der Insel. Als grüner Strich hob sich Amrum vom Meer ab. Geradeaus in Fahrtrichtung war ein kleiner Seglerhafen zu erkennen, während an der linken Inselspitze Häuser eine Ortschaft ankündigten.
     In Fahrtrichtung kam die Insel jetzt rasch näher. Es war beeindruckend, wie das Schiff mit donnernden Motoren in langsamer Fahrt punktgenau auf den Anleger zusteuerte. Dann, unter Aufbieten aller Motorenkraft, stoppte das tonnenschwere Gefährt.
     Plötzlich schrie jemand, Glas klirrte, gefolgt vom dumpfen Geräusch von sich verbiegendem Metall. Ein Wagen war vorgeschnellt, war auf das vor ihm stehende Auto aufgefahren. Eine rothaarige Frau stieg aus, fluchte leise. An der Metallwand stand ein Mann, den Frank Falke kannte. Es war der Mann, der ihn so penetrant auf das Verbot der Möwenfütterung aufmerksam gemacht hatte. Sein Gesicht war von leichenhafter Blässe. Er sah aus, als hätte soeben ein Anschlag auf sein Leben stattgefunden.
     „Er hat gezittert, als ginge es um sein Leben.“ Detlef Knapproth grinste.
     „So bleich habe ich den Schmidt selten gesehen.“
     Der Bus näherte sich dem Dorf Nebel, hatte soeben die Windmühle passiert, fuhr am Ortsrand entlang, vorbei an Einfamilienhäusern, dazwischen ab und an ein altehrwürdiges Friesenhaus. Jemand stieß Ingmar Hagedorn mit dem Ellenbogen an. Er versuchte, sich noch kleiner zu machen, was kaum möglich war, da Detlef Knapproth neben ihm ohnehin den größten Teil der Sitzbank ausfüllte. Der Bus bremste. Ingmar Hagedorn hielt sich an der Haltestange vor dem Sitz fest, griff nach der Reisetasche zwischen seinen Füßen. Im Bus herrschte qualvolle Enge und zwischen den Menschen, die sich kaum rühren konnten, befanden sich am Boden Koffer aller Art, Taschen, Rucksäcke.
     „Dabei ist doch gar nichts passiert.“ Detlef Knapproth spann den Gedanken fort.
    „Schmidt war doch längst aus dem Auto raus, als die kleine Engels mit ihrem BMW den Satz nach vorn gemacht hat. Na ja, so’n paar zerquetschte Beine sind natürlich nicht schön. Aber war ja nicht so.“
     „Sie kennen die beiden?“
    „Gehören beide unserem Verein an.“ Detlef Knapproth lachte. „Was die Engels schreibt, weiß ich gar nicht, aber so doll kann das nicht sein, und der Schmidt schreibt Sonaten. Hölzerne Dinger, unerträglich, sollte er lieber lassen. Sind beide nicht sehr erfolgreich. Bei mir ist das anders. Meine Bücher laufen gut. Ich hatte in letzter Zeit zahlreiche Lesungen, eine sogar im Gottorfer Schloss in Schleswig.“
     Der Bus hielt, öffnete die Türen. Bewegung entstand. Etliche Menschen stiegen aus. Ingmar Hagedorn dachte an seine eigenen schriftstellerischen Versuche. Der plötzliche Unfalltod seiner Frau ... seine Gefühle von Einsamkeit und überwältigender Trauer ... der Versuch, dies alles in Worte zu fassen. Das war vor acht Jahren. Seine Frau war noch nicht einmal dreißig gewesen, als sie starb. Die ersten Jahre danach waren für ihn zur Hölle geworden, seine Gedichte hatten ihm geholfen, dies auszudrücken. Später hatte er weitergeschrieben. Vor drei Jahren hatte er dann durch Zufall gewagt, einem Freund das Heft zu zeigen. Dessen Begeisterung hatte ihn schließlich bewogen, zweihundert kleine Bücher auf eigene Kosten drucken zu lassen, und zu seinem Erstaunen waren die Hefte schnell vergriffen gewesen. Jetzt lag seine gesamte Auflage bei fünfhundert Stück. Bald darauf hatte Detlef Knapproth ihn angerufen und ihn überredet, dem Club der Poeten beizutreten. Seit einem halben Jahr war er jetzt Mitglied. Und nun waren sie unterwegs zur Jahrestagung des Vereins, die in Norddorf stattfinden sollte.
     Der Bus setzte sich wieder in Bewegung, hielt erneut, wurde leerer.
    „Und dieser Schmidt, von dem Sie sprachen ...“
   „Nicht so laut! Da vorne steht er.“ Detlef Knapproth deutete verstohlen nach vorn. In der Nähe des Fahrers sah Ingmar Hagedorn einen etwas fülligen Mann stehen, vielleicht ein paar Jahre älter als er selbst, Ende Vierzig. Der Mann machte einen überaus korrekten Eindruck.
     „Wissen Sie, es würde mich gar nicht wundern“, Detlef Knapproth senkte seine Stimme, flüsterte, „wenn die kleine Engels das mit Absicht getan hat.“
     „Den Autounfall? Aber ...“
    „Warum nicht? Die hat doch Geld, das sieht man. Geerbt, wenn ich mich nicht irre. Ha- ben Sie gesehen, was für einen Schlitten die fährt? Und die Versicherung zahlt doch. Weisen Sie der mal nach, dass das kein Unfall war. Den Gang einlegen – ist sowieso Pflicht beim Parken auf der Fähre – und vergessen, die Kupplung zu treten, dann den Wagen anlassen ... und Rumps! macht die Karre einen Satz nach vorn. Ein kleiner roter Teufel, sag ich Ihnen. Flotte Biene. Ist aber schwer ranzukommen.“
     Der Bus erreichte Norddorf. Der Kiefernwald, der sie die letzten beiden Kilometer begleitet hatte, hörte auf, an den Straßenrändern wurden die ersten Pensionen sichtbar.
     „Aber ...“
    „Nun gucken sie nicht so entrüstet.“ Detlef Knapproth schien seine Verlegenheit wahrzunehmen. „Und kommen Sie mir nicht mit Moral. Wer ist schon moralisch? Sie vielleicht oder ich? Moral, Bildung und Erziehung, vor 20 Jahren hatte ich auch den Kopf voll von solchen Ideen. Vergessen Sie’s. Jeder nimmt sich, was er kann, das ist Moral. So sieht es aus.“
     „Ich weiß nicht. Und warum sollte sie so etwas tun?“
    „Weil ... Ah, wir sind da. Erzähl ich Ihnen später mal. Na, dann wollen wir mal sehen, was der alte Schneiber für uns vorbereitet hat. Hoffentlich ist es besser als das letzte Mal.“
     Der Bus näherte sich der Kurverwaltung, bremste. „Endstation“, verkündete der Fahrer über die Lautsprecher.

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